Geschichte der mechanischen Musik
Begriff
Dr. h.c. H. Weiss-Stauffacher definiert den Begriff «mechanische Musikinstrumente» - im Gegensatz zu den vom Menschen zu spielenden Instrumenten - als Musikinstrumente, die mechanisch, d.h. ohne künstlerische Einwirkung des Menschen, Schall oder Klang erzeugen. Bei ihnen werden die Schallquellen (elastische Festkörper, Membranen, Saiten, Luftsäulen etc.) entweder durch ausser-menschliche Kräfte (Wind, Luftdruck, Wasser, Gewicht, Zugfeder, Strom) oder durch rein mechanischen, kunstlosen, gleichförmigen Antrieb durch den Menschen (Kurbeldrehen bei Drehorgeln, Balgtreten bei Selbstspielklavieren, Orgeln, Harmoniums etc.) erregt.Diese Instrumente sind «mechanisch spielbar», die andern «selbstspielend», «selbsttätig» oder «automatisch».
Automatisches Glockenspiel aus
Die Gewichte, welche bis anhin die automatischen Orgeln und Glockenspiele antrieben, wurden ersetzt durch Federantriebe, welche es ermöglichten auch kleinere Instrumente zu bauen. Augsburg, dann Paris, London und der jura im 18. jahrhundert waren wichtige Zentren der Produktion.
Ende des 18. Jahrhunderts begannen die Hersteller mit der Produktion von Flötenuhren und Walzendrehorgeln, welche aus den Vogelorgeln (Serinetten) des 17. Jahrhunderts weiterentwickelt wurden. Diese Instrumente konnten sich auch Leute leisten, welche weniger begütert waren als die Königshäuser. In England, Frankreich und in Genf entstanden Uhren mi t Glockenspielen, Orgeln und singende Vögel.
Die Hochblüte der mechanischen Musik ist im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts anzusiedeln. Der Genfer Uhrmacher Antoine Favre-Salomon erbaute Ende des 18. Jahrhunderts ein ganz neues mechanisches Musikinstrument, welches sich zu einer der bedeutendsten Schweizer Spezialitäten entwickeln sollte: die Musikdose. Er schraubte Stimmzähne nebeneinander auf einer Platine fest, bestiftete einen Zylinder, trieb das ganze mit einem Federmotor an, und erbaute so die erste brauchbare Zylindermusikdose. Zuerst waren die Musikwerke sehr klein und wurden in Schmuckstücke, Ringe und Medaillons eingebaut. Später wurden die Zylinder grösser, die musikalischen Arrangements raffinierter, und es entwickelte sich die weltberühmte Musikdosenindustrie in der Schweiz. Genf mit seinen berühmten Herstellern, wie Nicole Freres, Mermod Freres, Bremond, um nur einige Wichtige zu nennen, wurde zum Zentrum der Musikdosen. Die Produktion weitete sich in den Jura aus, wo diverse Hersteller neue Arbeitsplätze schafften und so der ganzen Region zum Aufschwung verhalfen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Tausende Exemplare aller Grössen und Qualität in die ganze Welt exportiert. Noch heute werden in Sainte-Croix bei der Firma Reuge SA, im Neuenburger-Jura, Musikdosen hergestellt.
Um das Jahr 1800 wurden in Wien und in St. Petersburg zum ersten Mal Instrumente gebaut, welche ganze Orchester zu imitieren versuchten. Ein neues mechanisches Musikinstrument war geboren: das Orchestrion. Diverse Instrumente, wie Trompeten, Flötenpfeifen, Triangel und Hämmer; welche metallene Saiten anschlagen, Trommel und Pauke, wurden in einem mechanischen Musikinstrument zusammengebaut. Das Ganze wurde von einem grossen Gewicht, welches sich auf der Rückseite der Instrumente langsam herabsenkte, angetrieben. Die verschiedenen Melodien stammten von einer Holzwalze, die mit kleinen Stiften aus Metall versehen war.
Die Kunst, Orchestrione zu bauen, verbreitete sich vor allem in Deutschland rasch. Hauptsächlich von Firmen im Schwarzwald wurde eine grosse Anzahl hervorragender Fachleute ausgebildet. Eine epochemachende Erfndung verhalf der noch jungen Branche bald zu enormem Aufschwung. Die bestifteten Walzen wurden durch gelochte Papierstreifen ersetzt. Die zeitaufwendige Produktion der Walzen als Tonträger entfiel und die Anzahl der Musikstücke für die Instrumente wuchs erheblich an. Die Schwarzwälder Firmen Blessing, Duffner, Welte, Heizmann und Imhof & Mukle gehörten zu den führenden Herstellern von Orchestrionen. Die Produktion weitete sich in der Folge nach Frankfurt aus, wo die Philipps-Orchestrion-Fabrik entstand. Fast gleichzeitig entwickelte sich die Messestadt Leipzig, nebst dem Schwarzwald, zum zweiten grossen Zentrum für mechanische Musikinstrumente in Deutschland. Paul Ehrlich begann im Jahre 1876 mit der Produktion kleiner Drehorgeln. Seine einfachen schwarzen Holzkisten, mit gelochten Kartonstreifen als Tonträger, Harmo- nikastimmen zur Tonerzeugung, einer Kurbel zur Betätigung des Balges erwiesen sich als Verkaufsschlager auf dem rasch expan- dierenden Markt. Die Massenproduktion mechanischer Musikinstrumente in Deutschland hatte begonnen. Im Jahre 1885 erfand Paul Lochmann - leichzeitig mit dem Engländer Ellis Parr - die Musikdose mit auswechselbaren Notenscheiben. Die Erfindung der Platten- spieldose durch Lochmann machte Leipzig zum Zentrum der Spieldosenindustrie. Die bis dahin marktführenden Schweizer Fabrikanten von Zylindermusikdosen wurden mit ihren veralteten Modellen innerhalb weniger Jahre vom Markt verdrängt. Die deutschen Hersteller von Spieldosen mit auswechselbaren Notenscheiben oder Platten, wie Symphonion, Polyphon und Kalliope erreichten in wenigen Jahren erstaunliche Produktionszahlen, welche die Verkaufszahlen der Schweizer Zylindermusikdosenfabrikanten bei weitem übertrafen. Die industrielle Herstellung mechanischer Musikinstrumente machte es auch einem breiteren Publikum möglich, sich einen Musikautomaten leisten zu können. Die Konkurrenz trug das Ihre dazu bei, für immer erschwinglichere Preise zu sorgen. Es war nicht mehr nur das Privileg reicher Leute Musik zu haben und sich daran zu erfreuen. In der Folge wurden sowohl Orchestrione als auch Plattenspieldosen je länger, je mehr mit einem Münzeinwurf versehen. Diese Neuerung eröffnete den Fabrikanten von Musikautomaten einen neuen Markt. Gastwirte zählten von nun an zu den Kunden. Sie stellten die Musikautomaten in ihren Gaststätten auf und zogen damit viel Publikum, welches gerne musikalisch unterhalten sein wollte, in ihre Lokale. Tanzlokale wurden eröffnet, in denen kein Orchester mehr spielte, sondern die Tanzlustigen zu Melodien aus einem Musikautomaten tanzten.
Im Jahre 1909 präsentierte die Firma Hupfeld, welche in Leipzig als erste Fabrik die Produktion von Orchestrionen aufnahm, das wohl spektakulärste mechanische Musikinstrument - die Hupfeld-Phonoliszt-Violina. Auf ein pneumatisches Selbstspielklavier wurde ein Gehäuse mit echten Geigen gebaut, welche durch einen Kreisbogen, der mit Rosshaaren versehen war, zum Erklingen gebracht wurden. Der Erfolg der Orchestrione der Firma Hupfeld war so überwältigend, dass noch weitere bedeutende Hersteller pneumatischer Instrumente Fabriken in Leipzig aufbauten. Zu nennen sind hier die Firmen Popper & Co., Paul Lösche und Kühl & Klatt.
Eine geniale Erfindung und für viele Sammler der Höhepunkt der Entwicklung mechanischer Musikinstrumente war das Reproduktionsklavier. Es war möglich, das Spiel von Pianisten so naturgetreu in eine Notenrolle zu stanzen, dass selbst Experten nicht unterscheiden vermochten, ob ein Piani selbst, oder ein Reproduktionsklavier zu hören war. Im Jahre 1904 brachte die Firm Welte in Freiburg das erste Welte-Mignon-Reproduktionsklavier auf den Markt. Eine lange Liste berühmter Komponisten und Piani sten bespielte in den Aufnahmestudios der Hersteller die Notenrollen. Edvard Grieg, Richard Strauss, Maurice Ravel, Claude Debussy, Eugen d’Albert, J.J. Paderewski, Georg Gershwin und viele mehr können auch heute noch original ab Notenrollen angehört werden. Auch in Amerika entstandene berühmte Firmen wie Duo-Art und Ampico.
J.J. Paderewsiki bespielte Musikrollen für die Firma Welte